Zum Punkt 3 der Themenübersicht:
Wer weitere Arbeiten von Norbert Ernst Herrmann sehen möchte, kann sich auf der Internetgalerie informieren. Nun also weiter im Text über das Buch mit dem Titel: "Kunst. Jenseits von Figuration und klassischer Abstraktion". Der Autor freut sich für das Vorwort den Kristallographen Rainer Matthes (Vertreter des Teilgebiets der Physik, Chemie und Materialkunde) gewonnen zu haben, den er und seine Frau durch Zufall auf dem Fest eines Freundes kennen und schätzen lernten und der sich für die Kunst von Norbert Ernst Herrmann interessierte. Er sah sich die Arbeiten im Atelier an und schrieb folgenden Text, der im Buch Seite 10 erschienen ist.
Kunst, Wissenschaft und Leben - Vorwort von Rainer Matthes
Kunst und Wissenschaft – dieses Geschwisterpaar ist unzertrennlich. Ihre vornehmste Familienähnlichkeit ist die Freiheit. Wahrscheinlich kann niemand so richtig eindeutig definieren, was Kunst ist. Aber vielleicht genügt es ja zu sagen, das was frei von Zweck und Aufgabe ist, ist Kunst. Die Wissenschaft ist in Teilen - vor allem die Philosophie - ebenfalls völlig frei. Es darf alles gedacht werden über alle ethischen und moralischen Grenzen hinweg. Allerdings sind die Ergebnisse dann noch lange nicht relevant, da erst in den angewandten Wissenschaften die Machbarkeit, die Nützlichkeit und eben die ethisch-moralischen Einschränkungen ins Spiel kommen. Natürlich gibt es so auch angewandte Kunst; die Freiheit der Kunst schließt selbstverständlich ein, dass sie sich eine Aufgabe, einen Zweck suchen darf. Norbert Ernst Herrmann tut das, wenn er als Designer im Auftrag arbeitet. Dass er dann aber immer noch Künstler ist, hat ihm sogar ein Gericht anhand von seinen konkreten Arbeitsergebnissen bestätigt, die als Kunst gewertet wurden. Bei all dem sind Innovation und Kritik der Antrieb der Entwicklung, in beiden Sphären werden Experimente durchgeführt, Hypothesen und Theorien formuliert und die Resultate veröffentlicht.
Über lange Zeit waren Kunst und Wissenschaft sehr viel vereinigter als heute, doch noch immer geht es um die Beschreibung dessen, was ist. Es ist ja keineswegs eine ausgemachte Sache ob das was ist, auch wäre, wenn kein wahrnehmendes Subjekt anwesend ist. Da ist die deutsche Sprache sehr klug: Wenn also ein bildender Künstler Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmung untersucht, arbeitet er gleichzeitig als Psychologe und Philosoph, als Gehirnforscher und Physiker, der optischen Erscheinungen erforscht und er reiht sich ein - wie jeder Wissenschaftler auch - in eine Jahrtausende zurückreichende Karawane, auf deren Weg er ein mehr oder weniger weites Schrittchen macht. Wenn Norbert Ernst Herrmann mit seinem kommunikationsorientierten und psychologischen Hintergrund Gesetzmäßigkeiten des Sehens untersucht und dabei Reihungen, Symmetrien, Perspektiven, Ordnungen, Permutationen, Bewegungen, Hierarchien und solche Phänomene in den Blick nimmt, tut er Ähnliches wie ein Kristallograph - und da ich ein solcher bin - war die Begegnung mit ihm und seiner Kunst eine lebhafte Anregung, diese Gemeinsamkeiten zu betrachten.
Die Kristallographie geht von einem »Idealkristall« aus, um die Symmetrien abzuleiten, die theoretisch möglich sind, um Atome in einem Festkörper anzuordnen. Dabei ist die Lage eines Atoms als ein mathematischer Punkt ohne räumliche Ausdehnung gedacht und der Kristall unendlich ausgedehnt. Dieses gedankliche Modell beschreibt natürlich nicht die Realität, was schon daran ersichtlich ist, dass von den 230 möglichen Symmetrien in der Natur nur wenige Dutzend vorgefunden werden. Im »Realkristall« sind die Lagen der Atome Orte mit einer bestimmten Aufenthaltswahrscheinlichkeit, es gibt also nur eine Ruhelage, die über einen gewissen Zeitraum integriert bestimmt werden kann und die eine Ausdehnung hat, die von der Temperaturschwingung abhängt. Der Kristall ist selbstverständlich auch nicht unendlich ausgedehnt, sondern hat Ränder. An diesen muss zwangsläufig die regelmäßige Struktur abbrechen. Die Kräfte, die den Kristall zusammenhalten, müssen am Rand irgendwie zu einer nach außen neutralen Anordnung zusammengebogen werden. Da die Kristallstrukturen meist mit Strahlen untersucht werden, die an dem Kristallgitter gebeugt werden, können diese Ränder aus wenigen Atomschichten nicht abgebildet werden, denn sie sind ja kein regelmäßiges Gitter mehr, an dem man die Beugung beobachten könnte. Allerdings sind gerade die Eigenschaften dieser Oberflächen für die Verwendung eines Kristalls als Werkstoff besonders interessant.
Außerdem liegen die Substanzen in der Natur nicht in der Reinheit vor, dass sich für jede Kristallart genau die passende chemische Zusammensetzung findet. Die Strukturen haben also oft eine gewisse Toleranz für beispielsweise verschieden große Atome bzw. Ionen. Bei der bei weitem häufigsten Gruppe der Feldspäte ist es gang und gäbe, dass an dem Platz für Natrium bis zu einer gewissen Grenze auch Calcium eingebaut werden kann, von da an bildet sich dann eine andere Kristallart. Dabei geht Symmetrie verloren. Es können auch Verunreinigungen der Zusammensetzung durch die Kristallisation vor sich hergeschoben werden, bis sie sich dann gewissermaßen als Schmutzränder zwischen den gereinigten Kristallen verfestigen. So kann Kristallisation auch als Reinigung der Substanz genutzt werden, was zum Beispiel bei Silizium für elektronische Anwendungen geschieht. Die eigentliche Kunst besteht dabei darin, in dem hochreinen Kristall eine bestimmte Menge Fehlstellen einzubauen, Luftmaschen gewissermaßen, um als Transistor zu funktionieren. Solche Unregelmäßigkeiten könnte man als Störungen bezeichnen, als Abweichungen von Normen und Regeln. Tatsächlich beschreibt man sie wohl realistischer als genau die Regel, auch wenn diese Regel unscharf und chaotisch erscheint. Nennt man sie Störungen, liegt darin unwillkürlich eine Bewertung, wie der Vorwurf der Unreinheit, der Unordnung, die behoben werden müsste. Unter solchen Aspekten betrachte ich die Kunst von Norbert Ernst Herrmann. Da tanzen Grundelemente in Choreographien, bis einmal etwas aus der Reihe tanzt, unmerklich zunächst, doch dann so deutlich, dass klar wird, nicht die Ausnahme die Regel bestätigt, sondern es die Regel ist, dass es die Ausnahme gibt. Ich glaube, so ist das Leben.